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Geschwister behinderter Kinder

Besonderheiten, Risiken und Chancen

 

 

„Auffällig ist ihre Unauffälligkeit – Geschwister behinderter Kinder“

von Eberhard Grünzinger

 

Kinder mit behinderten Geschwistern, leben häufig in einer schwierigen häuslichen Situation. Die Eltern müssen sich in der Regel intensiv dem behinderten Kind zuwenden. Da bleibt automatisch weniger Zeit und Aufmerksamkeit für die nicht behinderten Kinder übrig. Eltern berichten immer wieder, dass Sie froh sind, wenn mit ihren nicht behinderten Kindern „alles klappt“, diese keine Schwierigkeiten machen und Verständnis für die Situation haben. Das ist - verständlicherweise – auf Dauer zu viel von ihnen verlangt.

 

In der kindlichen Psyche entstehen in der Interpretation ihrer eigenen Situation nicht selten gewisse Irrationalitäten, die sie zu der Auffassung verleiten, dass ihre Eltern sie weniger lieben, da sie weniger Zeit und Interesse für sie haben.

Dem ist natürlich nicht so, aber die eigenen Beobachtungen der Kinder lassen verleiten sie zu diesen Schlussfolgerungen. Daraus können „negative“ Emotionen wie Eifersucht, Trauer und das Gefühl, zurückgesetzt zu sein, entstehen. Für diese Empfindungen schämen sich die Geschwister, was sie versuchen zu verbergen.

Hinzu kommen Belastungen durch die Sorge um das behinderte Geschwister. Auch die Geschwister beschäftigen sich – wie ihre Eltern – mit Therapiefortschritten und den Fragen nach dem „Warum“ einer Behinderung. Sie erleben zudem die gesellschaftliche Ausgrenzung – die Familie ist durch die Behinderung von vielem ausgeschlossen, manche von ihnen werden in der Schule gehänselt. Häufig sind sie die einzigen in ihrer Klasse, die ein behindertes Geschwister haben und ein Austausch über ihre Situation findet in der Regel nicht statt.

All diese Besonderheiten und Schwierigkeiten versuchen viele von den nicht behinderten Geschwistern alleine mit sich auszumachen, um die Eltern nicht noch mehr zu belasten.

Caroline, 13 Jahre alt und Schwester eines geistig behinderten Bruders, bringt es auf den Punkt: „Ich versuche, meinen Eltern keine Extra-Schwierigkeiten zu machen“.

In dieser Überangepasstheit und dem reibungslosen Funktionieren liegt jedoch die Gefahr, dass Eltern im familiären Alltag die Probleme der Geschwisterkinder übersehen und ihre Bedürfnisse und Interessen überhaupt nicht mehr wahrnehmen, auch wenn sie sich dafür interessieren.

 

Genau diese Unauffälligkeit ist es, die geradezu auffallend ist.

Systemisch betrachtet ist dieses Wesensmerkmal ein Abbild und Folge ihrer häuslichen Situation. Rücksichtnahme und frühe Verantwortungsübernahme, zusammen mit der Zurückstellung eigener Wünsche und sozial (über-)angepasstem Verhalten entwickeln sich auch aus dem Motiv heraus, die Eltern und die Familie insgesamt zu schützen und zu stabilisieren. Einerseits führt diese Situation zu einer Entwicklung, die in vielen Aspekten eingeschränkt ist. Andererseits fördert diese Situation gerade die sozialen Kompetenzen, die so genannte „emotionale Intelligenz“.

 

Diese sozialen Kompetenzen werden manchmal aber sehr leidvoll erworben. Dann ist es an der Zeit, gegenzusteuern durch konkrete Unterstützung in Form von Seminaren, Beratung oder Freizeiten. Dabei kommt den Eltern eine besondere Rolle zu. Sie sollten ihre nicht behinderten Kinder ermuntern, diese speziell für sie konzipierten Angebote wahrzunehmen, ohne den Eindruck zu erwecken, sie seien behandlungsbedürftig.

Oftmals genügt schon der Austausch mit anderen Geschwistern, um Vorfälle in ihrer Familie bereden und neu einordnen zu können.

Zudem brauchen die Kinder auch die Versicherung ihrer Eltern, dass sie ebenso geliebt werden wie die behinderten Geschwister, und warum sie unterschiedlich behandelt werden.

Es geht nicht darum, dass Eltern ihre Kinder gerecht behandeln indem Sie allen Kindern gleich viel Zeit widmen. Es geht vielmehr darum, dass die Kinder die Ungleichbehandlung verstehen und sich der Liebe ihrer Eltern sicher sein können, trotz objektiv weniger gemeinsamer Zeit und Aufmerksamkeit.

 

Geschwister haben häufig Angst oder zumindest ein gewisses Unbehagen vor solchen Freizeiten oder Seminaren speziell für ihren Personenkreis.

Sie befürchten, sie müssten über ihre häusliche Situation sprechen oder über Gefühle, die sie lieber verbergen wollen.

Aus diesem Grund ist es wichtig zu betonen, dass solche Gespräche nur freiwillig geführt werden – ein Umstand, der die Autonomie der Geschwister fördert.

Die Wünsche der Geschwister sollen bei diesen Angeboten im Vordergrund stehen, insbesondere der Respekt vor der Beziehungsgestaltung seitens der Kinder. Es wäre wünschenswert, dass Eltern sich deshalb über solche Veranstaltungen informieren, um dann im Gespräch mit ihren Kindern Ängste vor einer ungewollten „Therapeutisierung“ erst gar nicht aufkommen zu lassen.

 

Als Qualitätsmerkmal solcher Veranstaltungen kann gelten, dass während der Freizeiten oder Seminare die besondere Situation der Geschwisterkinder auf unterschiedliche, pädagogische Weise thematisiert und aufgearbeitet werden kann. Dies sollte aber immer „Angebotscharakter“ haben und die Kinder oder Jugendlichen nicht zur Offenbarung verpflichten.

 

Johanna, 24 Jahre alt, spricht über die Bedeutung einer Geschwisterfreizeit für ihr Leben als Geschwisterkind:

„Vor 8 Jahren in der Geschwisterfreizeit änderte sich mein Leben. Genauer gesagt: Es begann! Geschulte Betreuer zeigten mir, dass ich auch „ich“ sein durfte, nicht nur „Schwester". Ich war nicht mehr für alles verantwortlich, schon gar nicht für die Belange meiner Schwester oder meiner Eltern. Ich lernte meine Gefühle und mich selbst wahr- und ernst zu nehmen. Von da an musste ich nicht mehr allen Leuten etwas vorspielen. Meine um mich aufgebaute Mauer bröckelte; ich durfte lachen und weinen, wie ich das Bedürfnis hatte. Das einzigartige Gefühl, auch etwas Wert zu sein; etwas Besonderes, nur weil ich „ich“ bin - als „Geschwister" auch etwas zu zählen! Und das alles in der Gesellschaft von „Mit-Geschwistern" die einen genau verstanden --> EIN TRAUM! Ohne Geschwisterfreizeit wäre ich heute nicht ich! Danke!“.

 

In Ferienfreizeiten mit anderen gesunden Geschwistern, bei regelmäßigen Treffen und bei Angeboten für die ganze Familie können sie sich austauschen. „Allein die Idee der Eltern, sich um ein Seminar oder Ähnliches zu kümmern, zeigt den Kindern bereits: „Ich bin auch wichtig“.

 

Von Angeboten für die Familien gebe es in Deutschland aber noch sehr wenige.

Viele Eltern müssen sich erst einmal an den Gedanken gewöhnen, dass ihre Kinder auch außerhalb mit anderen über ihre Gefühle reden möchten oder können. Deshalb gibt es auch für sie vereinzelt Seminare, in denen sie lernen, damit umzugehen. Solange die Eltern aber niemand darauf aufmerksam macht, dass ihren gesunden Kindern etwas fehlen könnte, nehmen sie an solchen Seminaren auch nicht teil. Nur viel mehr Öffentlichkeitsarbeit kann das ändern.

 

Buchtipp:

Eberhard Grünzinger

"Geschwister behinderter Kinder –

Besonderheiten, Risiken und Chancen"

Ein Familienratgeber

ISBN 3-937252-68-1, Care-Line-Verlag

 

Internettipp:

www.geschwister-behinderter-kinder.de

 

 

Quelle: Eberhard Grünzinger

in „L.I.E.S. – Lebenshilfe in eigener Sache“,

Heft 1, 2009, Lebenshilfe München,

Seite 6 - 11